Tuesday 2 November 2010

Berlin! Berlin!

Anmerkung: ein satirischer Text.

Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin.

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Der Berliner hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Vereabredung und etwas zu spät und hat sehr viel zu tun. In dieser Stadt wird nicht gearbeitet - hier wird geschuftet.(Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt und von der man etwas haben will.)

Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause. Sie sind gerade zwischen zwei Telephongespröchen oden warten auf eine Verabredung oder haben sich - was selten vorkommt - mit irgend etwas verführt -  da sitzen sie und warten. Und schießen dann plötzlich, wie den Pfeil von der Sehne - zum Telephon - zur nächsten Verabredung.

Der Berliner kann sich nicht unterhalten. Manchmal sieht man zwei Leute miteinander sprechen, aber sie unterhalten sich nicht, sondern sie sprechen nur ihre Monologe gegeneinander. Die Berlniner können auch nicht zuhören. Sie warten nur ganz gespannt, bis der andere aufgehört hat zu reden, und dann haken sie ein. Auf dieser Weise werden viele Berliner Konversationen geführt.

Die Berliner sind einander spinnefremd. Wenn sie sich nicht irgendwo vorgestellt wurden, knurren sie sich auf der Straße und in den Bahnen an, denn sie haben miteinander nicht viel Gemeinsames. Sie wollen voneinander nichts wissen und jeder lebt ganz für sich. Berlin vereint die nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt.

von Kurt Tucholsky, 1919



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